In der Ballade „La Balanguera“, die er 1902/03 verfasste, schildert der Dichter Joan Alcover i Maspons (*1854 bis 1926) das Wirken des weiblichen Fabelwesens, das er Balanguera nennt. Nachdem 1897 seine Frau und 1901 seine Tochter verstorben waren, ließ sich Alcover von einem auf Mallorca beliebten Lied über die Phantasiegestalt inspirieren, um sich den Schicksalen des Menschen zu nähern.
Die rätselhafte Balanguera spinnt unaufhörlich die Fäden, durch die sie gleich den Parzen, den römischen Göttinnen des Schicksals, den Verlauf des menschlichen Lebens bestimmt. Sie bewahrt nicht nur die Vergangenheit auf, die keine Geheimnisse vor ihr verbergen kann. Sie schafft vielmehr auch die Zukunft, deren Keime bereits im Gewesenen angelegt sind. Die teilnahmslose Balanguera gestaltet immerfort den Zyklus des menschlichen Lebens, der mit der Geburt beginnt und durch den Tod endet.
„La Balanguera misteriosa, com una aranya d’art subtil, buida que buida sa filosa, de nostra vida treu lo fil. Com una parca bé cavilla, teixint la tela per demà. La Balanguera fila, fila, la Balanguera filarà.
Die geheimnisvolle Balanguera, wie eine Spinne in höchster Kunst, leert ja leert ihren Spinnrocken, zieht sie den Faden unseres Lebens. Wie eine Parze die wohlbedacht, den Stoff für das Morgen webt. Die Balanguera spinnt, spinnt, die Balanguera wird immerdar spinnen.
Girant l’ullada cap enrera, guaita les ombres de l’avior, i de la nova primavera, sap on s’amaga la llavor. Sap que la soca més s’enfila, com més endins pot arrelar. La Balanguera fila, fila, la Balanguera filarà.
Den Blick nach hinten gerichtet, erspäht sie die Schatten der Herkunft, und des neuen Frühlings, sie weiß wo der Keim verborgen ist. Sie weiß dass der Baustamm umso höher strebt, je tiefer seine Wurzeln reichen können. Die Balanguera spinnt, spinnt, die Balanguera wird immerdar spinnen.
Quan la parella ve de noces, ja veu i compta sos minyons, veu com devallen a les fosses, els que ara viuen d’il·lusions, els que a la plaça de la vila, surten a riure i a cantar. La Balanguera fila, fila, la Balanguera filarà.
Wenn das Paar von der Hochzeit kommt, sieht und zählt es bereits seine Kinder, es sieht wie sie in die Gräber fallen, diejenigen die jetzt von Illusionen leben, diejenigen die auf den Dorfplatz gehen, um zu lachen und zu singen. Die Balanguera spinnt, spinnt, die Balanguera wird immerdar spinnen.
Bellugant l’aspi, el fil cabdella, i de la pàtria la visió, fa bategar son cor de vella, sota la sarja del gipó. Dins la profunda nit tranquil·la, destria l’auba que vindrà. La Balanguera fila, fila, la Balanguera filarà.
Die Spindel wandern lassen, das Ende des Fadens, und die Vision der Heimat, lassen ihr altes Herz schlagen, unter dem Twill des Wamses. In der tiefen stillen Nacht, zerstört sie die Morgendämmerung die kommen wird. Die Balanguera spinnt, spinnt, die Balanguera wird immerdar spinnen.
De tradicions i d’esperances, tix la senyera pel jovent, com qui fa un vel de noviances, amb cabelleres d’or i argent, de la infantesa qui s’enfila, de la vellura qui se’n va. La Balanguera fila, fila, la Balanguera filarà.
Aus Traditionen und Hoffnungen, webt sie die Standarte der Jugend, wie jemand der einen Hochzeitsschleier macht, aus Fäden von Gold und Silber, aus der Kindheit die sich ins Leben einreiht, aus dem Alter die es verlässt. Die Balanguera spinnt, spinnt, die Balanguera wird immerdar spinnen.“
Der Pianist Joan Moll i Marquès (*1936 bis 2023) schrieb 1996 im Diario de Mallorca:
„Die geheimnisvolle Balanguera repräsentiert die kollektive Identität, die Nation, die Heimat, das Volk, eine Realität, die uns übersteigt, die schon immer da war und uns überleben wird. Sie erinnert uns daran, dass wir verantwortlich für unser Land sind.“
Mit der Melodie, mit der er 1926 das Gedicht vertonte, schaffte der Komponist Amadeu Vives i Roig (*1871 bis 1932) eine triumphale Komposition, der eine erhebende Wirkung zukommt. Indem die Tonfolge aufsteigt und in kleinen Schritten wieder zurückfällt, schwingt sie sich in immer neue Höhen auf.
Die Qualität der Schöpfung stellte Moll nicht nur auf eine Stufe mit dem deutschen Weihnachtslied „Stille Nacht, heilige Nacht“. Vielmehr verdeutlichte er 1996 im Diario de Mallorca auch, dass die Melodie das Auf und Ab des menschlichen Lebens widerspiegelt:
„Sie erlaubt es uns nicht, uns auf unseren Lorbeeren auszuruhen.“
Das Lied „La Balanguera“ wurde am 29. Mai 1926 im palau de la Música Catalana in Barcelona uraufgeführt, bevor es im Juli 1926 vom orféo de Sabadell (Gesangsverein Sabadell) erstmals auf Mallorca gesungen wurde. Über die Begeisterung des Publikums berichtete der Rechtsanwalt Pau Alcover de Haro (*1901 bis 1970), der Sohn des Dichters, dass es durch immer wieder aufflammende Rufe eine dreimalige Wiederholung des Lieds eingefordert habe.
Am 4. November 1996 erhob der Consell Insular de Mallorca (Mallorquinischer Inselrat) das Lied zur Hymne der Insel. Allerdings werden nur die erste, die zweite und die fünfte Strophe des fünfteiligen Gedichts als Huldigung gesungen, wobei jeweils der letzte Satz vor dem Refrain und der Refrain wiederholt werden. Mit der Bitte, bei offiziellen Anlässen unter Beteiligung von mallorquinischen Vertretern nicht mehr die spanische Nationalhymne des Marcha Real Española (Königlicher spanischer Marsch), sondern die mallorquinische Hymne der La Balanguera zu spielen, versandte der Consell Insular de Mallorca eine Aufnahme des Instrumentalstücks an alle Staaten der Europäischen Union.