Ein ostfriesisches Unikat: Die Deichkirche Carolinensiel

Am Pumphusen in Carolinensiel erhebt sich die Deichkirche Carolinensiel (53.691759 N, 7.800549 O).

Sie ist nicht nur die nördlichste Kirche des Harlingerlandes. Sie ist vielmehr auch das einzige Gotteshaus an der ostfriesischen Küste, das auf einem Deich steht.

Deichkirche Carolinensiel – Südliche Ansicht – 2023

Die Siedler, die sich ab 1730 in Carolinensiel niedergelassen hatten, waren zunächst auf die Gottesdienste in den umliegenden Orten angewiesen. Mit dem Dekret vom 8. Juli 1732 wurden sie von Georg Albrecht von Ostfriesland, dem Reichsfürsten der Grafschaft Ostfriesland (1708 bis 1734), der Kirchengemeinde Sankt Florian in Funnix zugeordnet. Obwohl deren Pastor auch nach Carolinensiel reiste und Gottesdienste im Fürstinnen-Grashaus abhielt, baten die „Schiffer, Everleute und Eingesessenen“ schon bald um die Erlaubnis zum Bau einer eigenen Kirche, was ihnen aber 1740 von Carl Edzard von Ostfriesland, dem Reichsfürsten der Grafschaft Ostfriesland (1734 bis 1744), verwehrt wurde. Nachdem Carl Edzard am 25. Mai 1744 kinderlos verstorben war, fiel die Grafschaft Ostfriesland an den preußischen König Friedrich II den Großen (1740 bis 1786), der die Eindeichung und Besiedlung der Ländereien um Carolinensiel insbesondere ab 1765 weiter vorantrieb. Die wachsende Zahl der Siedler stellte schon bald erneut ein Gesuch zur Errichtung eines eigenen Gotteshauses in Carolinensiel, auf das 1770 die Finanzmittel zur Anstellung eines Pastors bewilligt wurden.

Seitdem sind einige Pastoren in Carolinensiel tätig geworden:

1776 bis 1804 Heinrich Matthias Ohrtgiesen

1805 bis 1811 Eberhard Diederich Bödecker

1811 bis 1846 Adrian Theodor Reershemius

1847 bis 1865 Johannes Haupt

1866 bis 1875 Adloph Friedrich Wilhelm Bleske

1875 bis 1895 Johann Enno Stockstrom

1899 bis 1932 Johann Harms Buß

1933 bis 1954 Renko Willms Tammen

2022 Karola Wehmeier

Noch 1770 bot der Landwirt Hayken Marten das auf dem Deich liegende Grundstück zum Bau einer Kirche an. Der ursprünglich durch Carolinensiel verlaufende Deich, der noch heute entlang der Mühlenstraße und der Bahnhofstraße gut zu erkennen ist, war durch die weitere Eindeichung zu einem Schlafdeich geworden.

Das Gotteshaus wurde von 1775 bis 1776 erbaut.

Sein Bau wurde auch von den in Carolinensiel ansässigen Kapitänen gefördert. Sie lieferten nicht nur Backsteine, sondern auch Holz für das Bauvorhaben.

Das Gotteshaus wurde am 20. Oktober 1776 eingeweiht.

Die aus Backsteinen errichtete Kirche hat eine rechteckige Grundfläche, die über keine Vorsprünge verfügt und auf die ein geziegeltes Walmdach aufgesetzt ist; auf dem östlichen First erhebt sich ein schlichtes Kreuz. Die nördliche und die südliche Langseite sind von vier Fenstern durchbrochen, die eine korbbogige Form haben. Die westliche Kurzseite beherbergt das Portal, das ebenfalls eine Korbform hat und den einzigen Zugang zum Innenraum eröffnet, während die östliche Kurzseite über keine Öffnung verfügt. Die Kirche wird von einem Spritzschutzstreifen umsäumt, der vollständig mit Muscheln gefüllt ist.

Deichkirche Carolinensiel – 2023

Der Innenraum wird durch einen schlichten Saal bestimmt, der durch sein kraftvolles Farbenspiel geprägt wird. Das volle Blau des Tonnengewölbes wird durch die weißen Wände vom satten Rot des 1967 eingebauten Kastengestühls und des Bodens getrennt.

Die Westseite wird von der weißen Empore aus Holz dominiert.

Sie trägt in der Mitte die von Otto Heinrich Hoock gestiftete Orgel.

Den aus Carolinensiel stammenden Hoock hatte es als Kommandeur der niederländischen Ostindien-Kompanie auf eine in der Bucht von Batavia, dem heutigen Jakarta, gelegene Insel verschlagen. Aus Amsterdam ließ er 1.000 Florijn nach Carolinensiel übermitteln, was dem Lohn eines Arbeiters für drei Jahre entsprach.

Das Instrument wurde von dem Organisten Michael Johann Friedrich Wiedeburg (*1720 bis 1800) und dem Orgelbauer Johann Friedrich Wenthin (*1746 bis 1805) entworfen. Es wurde von 1780 bis 1782 von dem Orgelbauer Hinrich Just Müller (*1740 bis 1811) gefertigt, sodass es 1782 eingeweiht werden konnte.

Deichkirche Carolinensiel – Empore und Orgel – 2023

Die an ihren Seiten mit zum Teil vergoldeten Akanthusranken verzierte weiße Orgel verfügt über elf Register und zwei Manuale, an die ein Pedal angehängt ist. Während das Instrument zunächst von 1897 bis 1898 von dem Orgelbauer Johann Diepenbrock (*1854 bis 1901) und sodann 1950 von dem Orgelbauer Alfred Führer (*1905 bis 1974) repariert und umgebaut worden war, wurde es von 1975 bis 1976 von der in Altwarmbüchen tätigen Firma Gebrüder Hillebrand Orgelbau und von 2004 bis 2005 von dem Orgelbauer Heiko Lorenz (*1959) wieder in ihren ursprünglichen Zustand versetzt; etwa die Hälfte der Pfeifen entstammt noch heute der historischen Orgel.

Die Empore beherbergt auf der rechten Seite eine Prieche. In dem aus weiß gestrichenem Holz gefertigten Raum im Raum, befanden sich ursprünglich Sitzplätze für die höheren Stände der Kirchengemeinde.

Der im Baustil des Barocks (1575 bis 1770) gefertigte Kanzelaltar prägt die Ostseite. Das Holzwerk, das in makellosem Weiß erstrahlt, verfügt über keine bildlichen oder figürlichen Darstellungen, was dem Zeitgeist der Aufklärung (1650 bis 1800) entspricht.

Im 18. Jahrhundert bediente sich die evangelisch-lutherische Kirche häufig eines Kanzelaltars. Mit der Errichtung der Kanzel über dem Altar wurde das in der Predigt von der Kanzel verkündete Wort Gottes auch optisch über das im Gottesdienst am Altar gefeierte Abendmahl gestellt. Die zentrale Bedeutung der göttlichen Lehren für den christlichen Glauben wurde mit den Kanzelaltären in die Innenarchitektur übertragen.

Der Altar wird durch den unteren Teil des Kanzelaltars gebildet, der an beiden Seiten über eine Kniebank verfügt. Ursprünglich nahmen die Gläubigen das aus Brot und Wein bestehende Abendmahl kniend an den Seiten des Altars entgegen.

Deichkirche Carolinensiel – Kanzelaltar – Schalldeckel – 2023

Die Kanzel, die über die rechtseitige Treppe betreten werden kann, wird durch den oberen Teil des Kanzelaltars bestimmt. Ihre Seiten werden von Pilastern gesäumt, an die sich zum Teil vergoldete Akanthusranken anschließen. Zwischen den Pilastern befindet sich der gerundete Kanzelkorb, dessen Mitte wiederum mit vergoldeten Akanthusranken verziert ist. Oberhalb des Kanzelkorbs liegt der Schalldeckel gleich einem Dach auf den Pilastern auf. Während auf dem Dach eine geschwungene Krone aufgesetzt ist, die von einer vergoldeten Kugel abgeschlossen wird, hängt unter dem Dach eine vergoldete Taube, die den Heiligen Geist symbolisiert. Unterhalb des Kanzelkorbs verlaufen zwei gebogene Träger, die in einem vergoldeten Pinienzapfen enden.

An beiden Seiten des Kanzelaltars ist eine Prieche errichtet worden.

Deichkirche Carolinensiel – Brigg VENUS – 2023

Auf den Priechen sind zwei Schiffsmodelle ausgestellt, die der Kirchengemeinde als Votivgaben überlassen worden sind. Von den in Carolinensiel ansässigen Kapitänen wurde ihr bereits am 20. Oktober 1776 zur Einweihung des Gotteshauses die Brigg VENUS gestiftet, die auf der linken Seite des Kanzelaltars steht. Die Kapitänstochter Altje Mehrings überließ der Kirchengemeinde sodann 1921 testamentarisch die Fregatte ALJE MEHRINGS, die etwa fünfzig Jahre später nach Köln ausgeliehen wurde, von dort aber nicht zurückkehrte. Nur die vorhandenen Fotografien und die ausgezahlte Versicherung ermöglichten 1973 einen Nachbau der ALJE MEHRINGS, der auf der rechten Seite des Kanzelaltars ausgestellt ist. Nachdem Jarg von Wackerode zu Beginn der 1980er Jahre zunächst die VENUS restauriert hatte, überarbeitete er auch die ALJE MEHRINGS, der er insbesondere den Namen ihrer Stifterin als Schiffsnamen auf den Bug malte; leider ging von Wackerode dabei das „t“ im Vornamen der Gönnerin verloren!

Deichkirche Carolinensiel – Fregatte ALJE MEHRINGS – 2023

Der rechtsseitig des Kanzelaltars stehende Taufstein wurde 1972 aufgestellt. Sein nach unten verjüngter Sockel trägt einen würfelförmigen Aufsatz, in den eine bronzene Taufschale eingelassen ist. Die Taufschale verfügt über einen bronzenen Deckel, auf den ein Kreuz aufgebracht ist.

Das Gotteshaus erinnert auch an die Kriege, in die Carolinensieler einbezogen waren.

Die südliche Wand trägt auf der linken Seite eine hölzerne Gedenktafel, auf der die Heimgekehrten der Koalitionskriege (1792 bis 1815) genannt sind, die auch das Königreich Preußen gegen die (Erste) Französische Republik und das (Erste) Französische Kaiserreich führte. Sie beherbergt in der Mitte eine Namenstafel aus Holz, auf der die Gefallenen des Ersten Weltkriegs (1914 bis 1918) aufgeführt sind. Auf der rechten Seite der Südwand hängt eine hölzerne Gedächtnistafel, auf der die Namen der Heimgekehrten des Deutsch-Französischen Kriegs (1870 bis 1871) festgehalten sind.

Die Brüstung der Empore bietet Platz für dreizehn Schiefertafeln. Während die Gefallenen des Zweiten Weltkriegs (1939 bis 1945) auf zehn Platten genannt sind, werden christliche Gedanken auf drei Tafeln wiedergegeben.

Auf der linken Seite der Nordwand hängt eine 1907 erstellte Radierung. Sie ist dem 1528 von dem Maler Lucas Cranach dem Älteren (*1472 bis 1553) gemalten Bildnis des Mönchs Martin Luther (*1483 bis 1546) nachempfunden.

Die nördliche Wand ist auf der rechten Seite mit einem Gemälde geschmückt, das 1854 von dem Malermeister Janßen an die Kirchengemeinde gegeben worden ist. Der unbekannte Künstler stellt die Kreuzigung des Jesus Christus in dem Moment dar, in dem ihm der römische Zenturio Longinus eine Lanze in die linke Seite stößt. Das Bild ist von einem aufwendigen Rahmen umgeben, der dem Portal eines Gebäudes nachempfunden ist. Zwei Säulen, die auf einem Sockel ruhen und die in einer marmornen Optik gestaltet sind, tragen einen dreieckigen Architrav.

Deichkirche Carolinensiel – 2023

Der Sockel enthält einen Hinweis auf die Bibelstelle, an der das von dem Künstler festgehaltene Geschehnis geschildert wird:

„Ev St Johannes Cap 19“

„Evangelium Heiliger Johannes Kapitel 19“

Der von der Kirche getrennt stehende Glockenstuhl stammt aus 1793.

Er wurde von dem aus Neufunnixsiel stammenden Kaufmann Johannes Becker finanziert.

Zwar trugen die Carolinensieler um die Wende des 19. zum 20. Jahrhundert erhebliche Geldmittel zusammen, um das Gotteshaus mit einem „richtigen“ Kirchturm auszustatten. Doch gingen die Ersparnisse während der von 1914 bis 1923 andauernden Inflationszeit verloren, die 1923 in eine Hyperinflation mündete.

Der aus Backsteinen erbaute Glockenstuhl hat eine quadratische Grundfläche, die an den Ecken leicht verstärkt ist. Er trägt ein pyramidenförmiges und mit Ziegeln belegtes Dach, dessen Grate leicht durchgebogen sind. Die Nord- und die Südseite des Glockenstuhls werden von einer korbbogigen Öffnung durchbrochen, die vom Dach bis zum Boden reicht. Seine westliche und seine östliche Seite sind mit zwei übereinanderliegenden Durchbrüchen versehen, die wiederum eine Korbform aufweisen. Der Glockenstuhl wurde wegen der häufigen Stürme der Nordsee nicht höher als die Kirche gebaut. Allein seine Spitze, der eine Kugel, eine Windrose und ein Schwan aufgesetzt sind, ragt über das Gotteshaus hinweg.

Ab 1402 wandte sich der Priester Jan Hus (*um 1370 bis 1415) im Königreich Böhmen gegen die Habsucht und das Lasterleben des christlichen Klerus. Er forderte nicht nur eine Reform der aus seiner Sicht verweltlichten Kirche, sondern erhob auch die Bibel zur einzigen Autorität in Glaubensfragen. Die von Hus entwickelten Gedanken beschäftigten auch das vom 5. November 1414 bis zum 22. April 1418 abgehaltene Konzil von Konstanz, zu dem auch Hus anreiste, nachdem ihm der römisch-deutsche König Sigismund (1411 bis 1437), der spätere römisch-deutsche Kaiser Sigismund (1433 bis 1437), ein unantastbares Geleit zugesichert hatte. Gleichwohl wurde Hus am 28. November 1414 zunächst verhaftet und sodann am 6 Juli 1415 von der Vollversammlung des Konzils wegen Häresie dem Feuertod überantwortet; das Urteil wurde noch am Nachmittag desselben Tages vollstreckt. Nach der Legende soll Hus, dessen tschechischer Nachname als Gans zu übersetzen ist, vor dem Betreten des Scheiterhaufens ausgerufen haben: „Heute bratet ihr eine Gans, aber aus der Asche wird ein Schwan auferstehen“.

Die Prophezeiung bezog Luther auf sich, indem er sich als den aus der Asche geborenen Schwan bezeichnete. Aus der von Luther gewählten Allegorie entwickelte sich im 16. Jahrhundert das Bildmotiv von „Luther mit dem Schwan“, das später den Schwan als Symbol der evangelisch-lutherischen Kirche hervorbrachte.

In einer 1531 verfassten Schrift führt Luther aus:

„Sanct Johannes Hus hat von mir geweissagt, da er aus dem gefegnis jnn Behemerland schreib: Sie werden jtzt eine gans braten (denn Hus heisst eine gans). Aber uber hundert jaren werden sie einen schwanen singen hören. Den sollen sie leiden. Da sols auch bey bleiben, ob Gott will.“

„Sankt Johannes Hus hat von mir geweissagt, da er aus dem Gefängnis in Böhmerland schreibt: Sie werden jetzt eine Gans braten (denn Hus heißt eine Gans). Aber über hundert Jahre werden sie einen Schwan singen hören. Den sollen sie leiden. Da soll es auch bei bleiben, ob Gott will.“

Die an der Südostecke des Glockenstuhls auf einem Sockel aus Backsteinen aufgestellte Glocke wurde 1949 von der in Bockenem ansässigen Glockengießerei J. F. Weule aus Gusseisen gegossen. Sie ersetzte bis 1982 die im Zweiten Weltkrieg beschlagnahmten Bronzeglocken.

Der Glockenstuhl trägt heute zwei Glocken, die aus Bronze bestehen. Die Glockengießerei Otto in Bremen fertigte 1947 die kleine Glocke, die im a-Ton erklingt. Die große Glocke, die im fis-Ton schlägt, wurde 1982 von der Glockengießerei Bachert in Neunkirchen gegossen.

An der Südseite des Glockenturms sind zwei Schiffergrabsteine aus Sandstein aufgestellt. Das linke Ehrenmal ist dem am 7. Dezember 1846 verstorbenen Arian Ommen Arians gewidmet, während der rechte Grabstein auf 1750 zurückgeht. Die nördliche Seite des Glockenstuhls bietet den Platz für einen 1939 entstandenen Schiffergrabstein.